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Gemmen-Sammlung to go

Band 2 der Glaspasten im Martin von Wagner Museum liegt jetzt vor



Gut Ding will Weile haben! Im Juli ist der zweite Band zur Kunstgattung neuzeitlicher Glaspasten in der Antikensammlung erschienen. Damit hat Erika Zwierlein-Diehl nach 37 Jahren das in Band 1 gegebene Versprechen eingelöst und ihre grundlegenden Untersuchungen zur Daktyliothek des Dresdener Kunsthandwerkers und Gelehrten Philipp Daniel Lippert (1702–1785) abgeschlossen. War Band 1 vor allem den Abformungen antiker Originale gewidmet, enthält Band 2 nun die Glaspasten mit antikisierenden Motiven der Neuzeit, die im 18. Jahrhundert überwiegend noch für authentische Zeugnisse aus dem Altertum gehalten wurden.


Mit dem „milliarium primum“ seiner Dactiliotheca universalis brachte Lippert 1755 die erste systematisch geordnete und mit gelehrten Kommentaren versehene Kollektion von Gipsabdrücken/-abgüssen nach antiken Gemmen aus den bedeutendsten Sammlungen Europas heraus. Zwei weitere Kassetten (scrinia) sollten 1756 und 1762 folgen. Damit ließ sich damals für einen erschwinglichen Preis eine Abguss-Sammlung für den ‚Hausgebrauch‘ erstehen, die ein komfortables Studium antiker Ikonographie ermöglichte.

Die Luxus-Edition in Form von gemmenähnlichen Glaspasten (pasta = ital. für Masse) erwies sich für die meisten Kunden als zu kostspielig. Bis dato ist davon auszugehen, dass das Martin von Wagner Museum der Universität Würzburg im Besitz der einzigen erhaltenen Ausgabe in Glas ist, auch wenn ca. die Hälfte der Objekte als verschollen gelten muss. Grund dafür ist, dass der Vorbesitzer, der Altenburger Lungenfacharzt Dr. Günther Krutzsch, nach dem Krieg in einem Leipziger Antiquariat unter glücklichen Umständen das vollständige Konvolut erstehen konnte, dann aber die Preziosen mit einem befreundeten Kollegen teilte.


Waren solche Sammlungen von Repliken lange Zeit in der Forschung als wertlose ‚Kopien‘ verpönt, ist inzwischen die Einsicht gereift, dass sie einen entscheidenden Schlüssel zum Verständnis spätneuzeitlicher und frühmoderner Antikenrezeption liefern. Nicht nur, dass viele originale Gemmen inzwischen verloren sind; die Abgüsse waren für viele Künstler*innen, die sich dem Vorbild der Antike bzw. dem Klassizismus verschrieben hatten, ein wesentliches Medium nicht nur für das eigene Antikenstudium, sondern auch zur Anregung eigener Bildentwürfe bzw. Kunstwerke. Die stilkundlichen Errungenschaften des später in Italien wirkenden Landsmannes Johann Joachim Winckelmann (1717–1768), mit dem Lippert zwischenzeitlich eine Wohnung teilte, wurden im Wesentlichen durch dessen Daktyliotheken ‚über die Alpen‘ getragen, wie der Kunsthistoriker Carl Justi (1832–1912) schon früh erkannt hat.


Vom Halbwaisen zum Professor

Da sein Vater, seines Zeichens Vorsitzender der Beutlerinnung (Lederverarbeitung), verstarb, als Philipp Daniel Lippert erst ein halbes Jahr alt war, war dieser frühzeitig zum eigenen Gelderwerb gezwungen. In Pirna erlernte er das Glaserhandwerk und gelangte nach vollendeter Ausbildung in die Gunst eines Dresdener Arztes, der ihn als Schreiber verdingte; auf diese Weise gelangte er in den Genuss des Zeichenunterrichts an der renommierten Schule von Heinrich Christoph Fehling (1654–1725). Nach dem Tod seines Gönners musste sich Lippert erneut nach einer Beschäftigung umsehen und fand zunächst ein Auskommen als Maler bei der Meißener Porzellanmanufaktur. Da er sich als Zeichner bald einen Namen machte, stieg er 1739 zum Zeichenmeister beim sächsischen Königshaus auf.


Lippert war ein ausgezeichneter Autodidakt. Weil er in jungen Jahren bereits schwerhörig war, konzentrierte er sich frühzeitig auf die Lektüre antiker Autoren und das Selbststudium antiker Kunst, indem er bei jeder Gelegenheit Sammlungen der Region aufsuchte und sich mit dem Problem der authentischen Vervielfältigung der Bildwerke auseinandersetzte. Auf diese Weise entdeckte er seine Liebe für Gemmen. Dank seines handwerklichen Geschicks gelang ihm bald die Herstellung von Abdrücken aus einer „weißen Masse“ (Talkerde + Hausenblase), einer Geheimrezeptur, die er sich im Experiment selbst erschlossen hatte. Daraus fertigte er seine Abgüsse in der Regel nach Replikaten, die ihm ‚aus aller Welt‘ mitgebracht oder zugeschickt wurden. Die geschmeidigen Glaspasten hatten gegenüber den zuvor üblichen Schwefelabgüssen und Siegellackabdrücken den Vorteil, dass sie als zumeist farbig gestaltete Positive den Originalen deutlich näherkamen und zudem nicht unangenehm rochen und kaum witterungsanfällig waren.


Getreu den Gepflogenheiten seiner Zeit konzipierte Lippert seine Dactyliotheca zunächst in einer auf Latein abgefassten Edition, zu der er den Universalgelehrten Johann Friedrich Christ (1700–1756) gewinnen konnte. Nach dessen Tod übernahm kein Geringerer als Christian Gottlob Heyne (1729–1812) diese Aufgabe für das dritte Tausend. Aber Lippert erkannte rasch, dass die Abfassung der Kommentare in der Sprache der Gelehrten seiner Absicht, den Künstler*innen seiner Zeit den Zugang zu antiker Kunst zu erleichtern, im Wege stand. Deshalb besann er sich 1767 zu einer von ihm selbst verfassten Neuauflage in deutscher Sprache (ursprünglich auch auf Französisch geplant), die tatsächlich sogleich einen deutlich gesteigerten Absatz hervorrief. „Der Lippert“ wurde zu einem Standardwerk höherer (Schul-)Bildung. Lippert selbst wurde 1764 zum ‚Professor der Antiken‘ an die neu gegründete Akademie der Künste in Dresden berufen. Zudem trat er in Korrespondenz mit der Habsburger Kaiserin Maria Theresia, der er 1776 einen Supplementband der Dactyliothec widmete.



Zeile 1: stillende Kentaurin, Mars, lächelnder Satyr, Apollo mit Kithara

Zeile 2: Löwe, auftauchender Flussgott, Biene, Mänade



Leben & Liebe für die ‚geschnittenen Steine‘

Die Autorin, Erika Zwierlein-Diehl, kann mit Fug und Recht als d i e große deutsche Expertin auf dem Gebiet der Glyptik bezeichnet werden. Seit ihrer Habilitation zu den antiken Gemmen in den Staatlichen Museen in Berlin (erschienen 1969) hat sie sich ganz auf die Erforschung ‚geschnittener Steine‘ verlegt. Weitere Meilensteine ihrer Tätigkeit sind etwa der dreibändige Katalog zu den antiken Gemmen im Kunsthistorischen Museum in Wien (1973–1991) sowie der Band über die Gemmen und Kameen am Dreikönigenschrein im Kölner Dom (1998). Schon lange beschäftigt sich Erika Zwierlein-Diehl aber nicht nur mit antiken Gemmen, sondern ebenso mit der umfänglichen Geschichte neuzeitlicher Daktyliotheken sowie der Antikenrezeption innerhalb der neuzeitlichen Glyptik.


Der nunmehr vorliegende Band 2 zu den Glaspasten im Martin von Wagner Museum enthält entsprechend eine ausführliche historische bzw. wissenschaftsgeschichtliche Einführung, die u. a. erstmals eingehend die Bedeutung des Philologen Johann Friedrich Christ für die Erforschung antiker Gemmen würdigt. Ferner wird den technischen Aspekten antiker Gemmenproduktion und ihrer Beurteilung durch Lippert besondere Aufmerksamkeit gewidmet. In diesem Zusammenhang ist auch auf eine neue Lesung und Interpretation der einschlägigen Stellen bei Plinius d. Ä. durch Otto Zwierlein hinzuweisen, die im Anhang 2 abgedruckt ist.


Die Gliederung des Katalogs ist übersichtlich in der konventionellen Hierarchie der Sujets vorgenommen: Auf die alphabetisch geordneten Gottheiten folgen mythologische Helden und Heroinen, generische menschliche Darstellungen sowie Porträts, Tiere und Sonstiges. Ein reicher Apparat aus Nachträgen zu Band 1, Abkürzungs- und Abbildungsverzeichnissen, Indices und Konkordanzen erleichtert die Arbeit mit beiden Katalogbänden. In einem weiteren Anhang (1) findet sich zudem eine Auflistung der Bücher aus der Bibliothek von Philipp Daniel Lippert, so dass ein wertvoller Einblick in sein ‚Künstlerwissen‘ eröffnet wird.


Für alle Liebhaber*innen antiker und neuzeitlicher Gemmen wartet der von der Ernst von Siemens Kunststiftung großzügig geförderte und im Deutschen Kunstverlag sorgfältig redigierte Band 2 mit einer angenehmen Überraschung auf: Im Ladenpreis (109,00 €) ist der Bezug des retrodigitalisierten Bandes 1, der ursprünglich im Prestel Verlag erschienen war, einbegriffen. Das Layout des hochwertigen Tafelteils ist übrigens unserer Fotografin, Christina Kiefer, zu verdanken, die zudem die noch auf Isolde Luckert zurückgehenden Aufnahmen um eigene ergänzt hat.


Bilder ganz oben: Titel und Innenseite

Bild oben: Sitzender Herakles mit Nymphe, Gipsabguss




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