- Martin von Wagner Museum
- 8. Mai
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Aktualisiert: vor 3 Tagen
Zwischen Komik und Abgrund

Pulcinella und Tiepolo gehören zur venezianischen Kultur des 18. Jahrhunderts. Dem skurrilen Possenreißer haben sich sowohl der berühmte Maler als auch sein Sohn immer wieder zugewendet. Das zeigen wir in einer Installation – Sensation inklusive!
Seit langem gehört das Würzburger Universitätsmuseum zu den Partnern des Mozartfests. In der Festspielsaison 2025 wird eine Komposition uraufgeführt, mit der Johannes Schöllhorn eine Serie von Zeichnungen von Giandomenico Tiepolo vertont hat. Als dieser Programmpunkt feststand, war auch eine neuerliche Kooperation zwischen Festival und Museum besiegelt – schon den Namen Tiepolo empfinden wir als Verpflichtung!
In den Jahren um 1800 schuf der Sohn Giambattista Tiepolos, auch er ein bedeutender Maler, den graphischen Zyklus Divertimento per li regazzi, der ganz und gar um das Treiben des Possenreißers Pulcinella kreist. Der dialektal gefärbte Titel, den Giandomenico seinen 104 Zeichnungen gab, lautet übersetzt: „Zeitvertreib für junge Leute“. Diese Bezeichnung ist pure Ironie – die abgründigen Seiten des Divertimento wurden sogar schon mit Goyas Caprichos verglichen.
Sofort haben wir uns auf die Suche nach verfügbaren Blättern aus dieser Serie gemacht. Doch rasch wurde auch klar, dass die Pulcinella-Zeichnungen kaum für eine Ausleihe in Frage kommen. In den 1920er-Jahren wurden sie über die ganze Welt zerstreut, viele befinden sich in unbekanntem Privatbesitz. 2019 wechselten bei Christie’s London sieben Blatt den Besitzer – für über vier Millionen Pfund! Wenn die Zeichnungen in öffentlichen Sammlungen landeten, so zumeist in amerikanischen Museen. Der Aufwand für eine vorübergehende Ausstellung aus Anlass der Uraufführung stellte sich als zu groß dar.
Eine Präsentation von Rang wird es dennoch geben. Zunächst wurde beim Städel Museum in Frankfurt angefragt, das 2006 eine Zeichnung aus Giandomenicos Zyklus erworben hat – die einzige, die sich heute in einem deutschen Museum befindet. Nach der Zusage für die Ausleihe kamen zwei Radierungen von Giambattista Tiepolo hinzu, die von den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden geschickt werden. Diese druckgraphischen Werke gehören zu den Scherzi di Fantasia, wie Giandomenico diese Serie seines Vaters genannt hat. Mit ihnen soll dargelegt werden, wie das Pulcinella-Thema sich auch schon im Schaffen von Tiepolo senior niedergeschlagen hat.

Ein Ausschnitt aus Giambattista Tiepolos anarchischem Pulcinellen-Gemälde, das die Galerie Robilant+Voena (London/New York) an das Martin von Wagner Museum ausleiht. – Foto: Damian Dombrowski.
Womit wir nicht rechnen konnten: Es gelang, ein Gemälde Giambattista Tiepolos nach Würzburg zu holen: ein sensationeller Coup, denn das Bild ist derzeit ein Star des New Yorker Kunstmarkts. Es zeigt über dreißig Pulcinellen, die mit dem Kochen, Verspeisen und Verdauen ihrer Leibspeise Gnocchi beschäftigt sind. Ein sehr witziges Bild, vor dem einem aber auch etwas unbehaglich zumute werden kann.
Das liegt in erster Linie an Pulcinella selbst. Ursprünglich in der neapolitanischen Commedia dell’arte beheimatet, war dieser Charakter seit dem 17. Jahrhundert auch in Venedig populär. Buckel und Schmerbauch, die schnabelartige Maske und der konisch zulaufende Hut verleihen ihm eine groteske Gestalt. Er ist gefräßig, einfältig und dreist, aber auch witzig und gesellig. Niemand durchschaut die Handlungen Pulcinellas, seine Unberechenbarkeit ist beunruhigend.
In dem Gemälde, das in unserer kleinen, aber hochkarätig besetzten Installation zu bestaunen ist, kennzeichnet Giambattista Tiepolo ihn als halb sympathische, halb sinistre Figur. Nicht nur ihrer Maßlosigkeit wegen sind es sinistre Figuren; ihre Ohrringe zeichnen sie als Außenseiter der Gesellschaft aus, ihr sinnloses Treiben verrichten sie im Halbdunkel.
Das Gemälde lässt sich als „Scherzo“ verstehen, wenn der Begriff an den 23 Radierungen gemessen wird, die Tiepolo senior in den 1740er- und 50er-Jahren geschaffen hat; sein Sohn nannte sie Scherzi di fantasia. Von vorneherein auf Nicht-Verstehbarkeit angelegt, gibt schon die Zusammensetzung ihres Bildpersonals Rätsel auf. Auch Pulcinella gesellt sich bisweilen unter die Bewohner dieser hermetischen Bildwelten.
In einer der Radierungen sehen wir ihn, den Gnocchitopf unter dem Arm, im Gespräch mit zwei Orientalen, gleichsam als Gegenbild zu dem adonisgleichen Jüngling neben ihnen. Eine trauerschwere Atmosphäre liegt über der Szene. Erschauern die hinteren Figuren vor der Nicht-Erzählbarkeit der Welt, die sich in der ziellos-absurden Komik Pulcinellas verkörpert? Die zweite Radierung zeigt eine Versammlung vor der Grabplatte Pulcinellas, dessen Profil sich im Hochrelief abzeichnet. Die Angehörigen einer außerzeitlichen Welt treffen auf ein Relikt aus der Zeit derer, von denen sie betrachtet werden. Ein Gruß aus einer geschichtslosen Zukunft, witzig und unbehaglich zugleich.

In der Zeichnung aus dem Frankfurter Städel (im Bild ein Detail) stellt Pulcinella den Eltern seine Braut vor. Was hier aber wirklich vor sich geht, hängt von der jeweiligen Betrachtung ab. – Foto: Städel Museum.
Dem Pulcinella-Thema widmete Giandomenico Tiepolo gegen Ende seines Lebens zwei Bilderzyklen: zum einen die Fresken, mit denen er 1793–97 die Familienvilla in Zianigo bei Venedig ausstattete, zum anderen die Folge von 104 großformatigen Zeichnungen, denen er selbst den dialektal gefärbten Titel Divertimento per li regazzi (Zeitvertreib für junge Leute) gegeben hat. Sie sind heute über die ganze Welt verstreut; die Ausleihe des einzigen in Deutschland befindlichen Blattes aus der Serie zollt einer zeitgenössischen Vertonung des Divertimento Tribut, die beim Mozartfest 2025 uraufgeführt wird.
Giandomenico entstammte einer Zivilisation, in der Kunst und Leben als Spiel und Theater zelebriert wurden. Diese Welt ging 1797 unter, als Napoleon die politische Freiheit Venedigs beendete. Zur selben Zeit entstanden, in der Abgeschiedenheit der Tiepolo-Villa, die Pulcinella-Zeichnungen. Die Schilderung familiärer und freundschaftlicher Solidarität wirkt wie eine Gegenwelt zu den traumatischen Ereignissen der Epoche.
Pulcinella tritt hier einerseits als multipler Jedermann in Erscheinung; andererseits wird die Schlüssigkeit der von ihm bevölkerten Szenen jedes Mal von unerklärlichen Brüchen durchkreuzt. In dem ausgestellten Blatt nimmt sich die Vornehmheit der Braut in der einfachen Welt der Pulcinellen wie ein Fremdkörper aus. Das Zentrum der Szene bleibt verborgen, die Handlung damit uneindeutig. Unter dem Anschein eines Historienbildes wird ein logischer Bildsinn verweigert. Dieses Merkmal verbindet die Zeichnung Giandomenicos letztlich mit dem Gemälde und den Radierungen Giambattistas und breitet über alle vordergründige Heiterkeit den Hauch einer tiefen Melancholie.
Dauer der Installation und begleitende Veranstaltungen
PULCINELLA | Giambattista & Giandomenico Tiepolo zwischen Komik und Abgrund. Installation in der Gemäldegalerie des Martin von Wagner Museums, 25. Mai bis 29. Juni 2025. Öffnungszeiten dienstags bis samstags 13.30–17 Uhr, sonntags im Wechsel mit der Antiensammlung 10–13.30. Soft opening mit Erläuterungen vor den Werken am Sonntag, 25. Mai um 11 Uhr.
Uraufführung von Johannes Schöllhorns Divertimento per il regazzi durch das Trio Catch mit Anmerkungen zu den Pulcinella-Zeichnungen Giandomenico Tiepolos durch Professor Damian Dombrowski am 29. Mai 2025 um 11 Uhr; anschließend Führung vor der Installation. Wegen der Schließung des Toscanasaal findet das Konzert im Würzburger Mozartareal, Hofstraße 11 statt. Kartenbestellung unter info@mozartfest.de, Tel. 0931-372336 oder im Kartenbüro im Mozartareal.
Einen Kunst-Musik-Dialog zum Pulcinella-Thema führen am Dienstag, 10. Juni um 18 Uhr Professor Ulrich Konrad und Professor Damian Dombrowski. Bei dem beliebten Format möchten ein Musikwissenschaftler und ein Kunsthistoriker sich gegenseitig beweisen, dass ihre Disziplin der Wahrheit am nächsten kommt. Aus dem improvisierten Schlagabtausch geht in der Regel vielleicht nicht der Weisheit letzter Schluss, aber doch manche unvermutete Einsicht hervor.